AHMET ÖGÜT. Vor deinen Augen
Zeitgenössische Kunst war in der Türkei lange Zeit ein nationales Geschehen und wurde nicht zuletzt deshalb international weitgehend ignoriert. Das hat sich geändert. In den siebziger und achtziger Jahren haben KünstlerInnen wie Füsun Onur, Ayse Erkmen, Gülsün Karamustafa, Hale Tenger u.a. begonnen, traditionsbedingte oder nationalstaatliche Festlegungen zu durchbrechen und internationale Einflüsse einzubringen. Mit der stärker werdenden internationalen Aufmerksamkeit der neunziger Jahre und den Istanbul Biennalen bot sich der progressiveren zeitgenössischen Kunst der Türkei Präsentationsfläche und Öffentlichkeit, was das Bewusstsein für den Wert dieser Kunst vor Ort, wie auch deren Entwicklung förderte.
Die jüngere Generation türkischer Künstler hat von diesen Veränderungen inhaltlich aber auch beruflich profitiert. Der Zugang zum internationalen Kunstbetrieb ist für Kunst aus der Türkei heute offener als noch vor wenigen Jahren.
Einer der international beachteten türkischen Künstler der nach 2000er Generation ist Ahmet Ögüt. Ausstellungsbeteiligungen in San Francisco, Berlin, Sydney, Athen, Eindhoven, Seoul, Helsinki, Santa Fe, Nimes, Malmö, Stockholm, Zagreb, London, Banja Luka, Stuttgart. Einzelausstellungen in Basel und Barcelona, drei Biennalen, zahlreiche Online- und Printbeiträge. Die vergangenen zwölf Monate des 27 jährigen Künstlers mit Arbeits- und Wohnort Istanbul und Amsterdam waren künstlerisch dicht gedrängt.
Malerei, Performance, Video, Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Installation. Ahmet Ögüt wendet verschiedene künstlerische Mittel an, um vielseitig Zugang zu seinen Ideen zu schaffen. In seinen Arbeiten greift er Gewohntes auf. Handlungen, Gegenstände, Situationen, die uns jeden Tag unterkommen, die für uns nicht weiter beachtenswert sind, weil wir sie schon längst erfasst haben. Die gewitzten Interventionen, mit denen Ahmet Ögüt am Gewohnten ansetzt, bringen jedoch Unerwartetes zum Vorschein: Einlagerungen staatlicher Macht, Festschreibungen gesellschaftlicher Unterschiede und soziale Kälte aber auch Idealismus, Hoffnung, individueller Widerstand und Ohnmacht werden in den Alltäglichkeiten sichtbar. Es setzt, sagt Ahmet Ögüt über die Wirkung seiner Kunst, eine Erinnerung ein an etwas, das wir schon wissen, aber zu sehen vergessen haben.
Statt dem oftmals hermetischen Weg der Theorie wählt der Künstler die Einstiegshilfe des Anektdotischen und Spielerisch-Absurden, um Menschen anzusprechen. Bei aller Leichtigkeit sind seine Arbeiten jedoch kritikvoll und weisen eine klare Schlagseite der Parteilichkeit für die entdeckerische, sich-öffnende, ausprobierende Seite im Menschen auf. Er wolle nicht belehren, sondern erinnern, und sei in seinem künstlerisch-politischen Selbstverständnis nicht an den großen Erzählungen interessiert, sondern an den Anekdoten. Diese könne man schnell erfassen. Sie verlangten nicht viel Zeit, um verstanden zu werden. So bleibe für jeden genug Zeit um darüber nachzudenken. (wh)
Das könnte Sie auch interessieren

THE BEGINNING. Kunst in Österreich 1945 bis 1980. #2 Der Phantastische Realismus und Friedensreich Hundertwasser
3. Juni 2020
TINA DOBRAJC. Wenn der Wandel ins Land zieht
29. November 2024
CONSTANZE RUHM. Re:Rehearsals (No Such Thing As Repetition)
21. Oktober 2015
ALEXANDRE DIOP. Kunst, Spiel und Wut.
24. September 2024
MARTIN NOËL. Die Retrospektive
19. Dezember 2021
THE BEGINNING. Kunst in Österreich 1945 bis 1980. #6 Pop Art
6. Juli 2020
GOTTFRIED HELNWEIN. Realität und Fiktion
7. November 2023